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Holger Biermann

Fotosequenzen der Coronazeit

Vernissage: 27.6.20, 19 Uhr
Ausstellung: 21.7.20 bis 04.08.20


Als das Corona-Virus im vergangenen Februar Deutschland erreichte, schob sich Holger Biermann gerade 6 Tage und Nächte mit der Kamera durch die Menschenmengen des Kölner Karnevals. „So lang mer noch am lääve sin“, sangen die Rheinländer dort aus ganzer Kehle und herzten sich dazu. Zurück in Berlin stand Biermann - der Straßenfotograf - von einem auf den anderen Tag auf unbestimmte Zeit erst mal allein auf den Plätzen der Hauptstadt, denn die Angst vor dem unbekannten und vermeintlich tödlichen Virus war plötzlich für alle real und wer konnte, blieb zu Hause. Warum er dennoch rausgegangen ist? „Das Wetter war so schön. März-Licht, sonnig und kühl“, sagt Biermann. Außerdem sei ja praktisch niemand draußen gewesen, der ihn hätte anstecken können. Also lief er bald täglich viele Stunden allein und ohne Ziel durch die weitläufige Stadt, in der er seit fast 17 Jahren lebt und arbeitet, und entdeckte Berlin dabei für sich nochmal ganz neu. Und welche Freude hat jeder Entdecker!

Zunächst ist Biermann viel im Westen unterwegs. Da überall gleich wenig los ist, wandert er auf leeren Haupt- und Nebenstraßen im tiefen Wilmersdorf, Charlottenburg oder Schöneberg - in Gegenden, wo er zum Teil noch nie war. Um dann spontan irgendwo in einen leeren Bus zu springen und einfach mitzufahren - wohin auch immer. Von dort aus läuft er weiter und so fort, bis er mit dem letzten Licht zurück nach Hause auf den Prenzlauer Berg findet. Fotografisch erlebt er große Durststrecken. „Die Leere ist schwer zu fotografieren, aber ich traute mich so alleine auch mehr rumzuspielen, knipste manchen Quatsch und grinste dabei.“ Man kann sagen, es sind erfüllte Tage für ihn.

Entscheidend für sein Fotografieren ist sicherlich auch, dass Biermann gleich zu Beginn der Corona-Zeit instinktiv zu einer anderen Kamera greift. Die für ihn und das Großstadttreiben sonst passende Canon 500 mit dem 28er Objektiv lässt er zu Hause. Ab sofort arbeitet er mit der Olympus PenD, einer analogen Halbformat-Kamera aus den 60er Jahren, die er zuvor schon auf seinen Kurz-Reisen nach Kairo oder ins österreichische Tux benutzt hatte. Die Halbformat-Kamera ist relativ klein, hat ein lichtstarkes Objektiv und zaubert statt der üblichen 36 querformatigen 72 hochformatige Aufnahmen auf einen Kleinbildfilm, die, wie Biermann schnell gewahr wird, „oft überraschend gut zusammenpassen.“

Und genau das gerät zum entscheidenden Punkt. In seinem neuen Projekt mit dem Titel ES IST GENUG ANGST FÜR ALLE DA vereint Biermann durch die stetige Paarsetzung, wie sie die Halbformat-Kamera automatisch schafft, all das, was in seinen bisher veröffentlichten 18 Booklets thematisch bewusst getrennt ist. Hier kommt alles zusammen und steht gleichberechtigt nebeneinander: Die meisterhafte Straßenaufnahme (wie z.B. in „Roma Termini“), die historische Ausnahme-Situation (wie bei den Aufnahmen vom 11. September in „Leaving Today“), die gekonnte Inszenierung einer leeren Stadtlandschaft (wie in „Haus + Hof“) oder das Spiel mit dem abstrakten Graffiti an der Häuserwand (wie im Booklet „Vorübergehend“). Stimmig in Form und Farbe verstärken sich die verschiedenen Einzelbilder so gegenseitig auf magische Weise.

Schon nach kurzer Zeit beginnt Biermann die Paarsetzung nicht mehr allein dem Zufall zu überlassen, sondern er versucht diese immer bewusster zu steuern. In den ersten Wochen der Pandemie hält ihn das in der ihn umgebenden Leere besonders wach. Später will er wissen: Wie weit kann man gehen? „Oft warte ich jetzt mit dem Auslösen, um ein vermeintlich passendes „Anschlussbild“ zu finden. Ich spiele also in gewisser Weise ´Domino´ mit der Kamera und übe Geduld.“ Man kann auch sagen, hier beginnt der Fotograf schon auf der Straße mit dem Edit - und nicht nur die Kamera erlaubt es ihm, sondern vor allem die Corona-Zeit selbst.

Da nicht nur die Straßen über viele Wochen menschenleer sind, sondern auch die überwiegende Zahl der Geschäfte geschlossen und verrammelt ist, hat Biermann erstmals wie noch nie zuvor beinah alle Häuserwände der Stadt sichtfrei vor sich. Beim Fotografieren der Besonderheiten an der Wand kann er sich Zeit lassen, wenn er gelungene Formen entdeckt. Keine Gäste-Bestuhlung verhindert das Bild vom Gehweg aus. Kein Passant stört. Und es ist erstaunlich, was Biermann an den Berliner Mauern so alles gefunden hat. Markante Schablonen-Bilder, die in der Szene „Stencil“ genannt werden, von Angela Merkel und John F. Kennedy ebenso wie auf die Wand tapezierte fragile Papierbilder, „Paste-Ups“ genannt, von Fabelwesen bis hin zu Clubtänzern. Dazu Aufkleber und unterschiedlichste Graffiti. Alle Elemente der reichen Berliner Street-Art-Szene finden sich in Biermanns Bildern wieder, und er kombiniert sie gekonnt mit Szenen der zunehmend wieder belebter werdenden Straßen. Es ist diese Erweiterung des Blickes für das Geschehen an den Wänden, das Biermanns neuem Projekt die Würze und Schärfe gibt.

Wie gesagt, in ES IST GENUG ANGST FÜR ALLE DA besteht jedes Bild aus der Paarung von zwei hochformatigen Fotografien, die auf dem Film nebeneinander liegen und nur durch einen schwarzen Balken getrennt sind. Von diesen Bildern hat Biermann für die Ausstellung im Berliner Supalife Kiosk immer zwei Paare nebeneinandergestellt, sodass stets vier Bilder eine in sich geschlossene Sequenz ergeben - kirchlichen Altarbildern nicht unähnlich. Diese Bilder erzählen viel über unser ungewöhnliches Leben in den vergangenen Monaten. Und die Zusammenstellungen öffnen oft humorvoll den Blick für neue unerwartete Bezüge, die unseren Wahrnehmungshorizont erweitern und die Angst - zumindest für den Augenblick - vertreiben. In der Summe verweisen Biermanns Fotografien auf die Tragweite dieser sicherlich historischen Corona-Zeit.

Mit den jetzt ausgestellten Bildern zeigt Holger Biermann einen ersten Auszug seines Projekts, das noch andauert genauso wie die Corona-Krise. Ein Besuch der Ausstellung lohnt gleichwohl, allerdings ist das Tragen einer Maske in jedem Fall zu empfehlen.

Vernissage: 27. Juni 2020, 19 Uhr

Ausstellung: 28. Juni – 04. August 2020

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